Online-Glücksspiel: «Gelegenheit schafft Spielende!»
Glücksspiele sind in der Schweiz ein beliebtes Freizeitvergnügen. Dank dem revidierten Geldspielgesetz können Schweizer Casinos ihr Angebote wie Roulette, Poker oder Spielautomaten neu auch online anbieten. Was hat das für Folgen? Wie verändert das die Beratung und Therapie von Glücksspielsüchtigen? Was kann vorbeugend getan werden? Beatrice Kriwanek und Christina Messerli von der Berner Gesundheit geben Auskunft.
Frau Kriwanek, Frau Messerli: Glücksspiele wie Lotto, Sportwetten oder Roulette sind in der Schweiz beliebt. Eigentlich sind sie ein harmloses Freizeitvergnügen. Doch nicht für alle. Gemäss Studien gelten in der Schweiz rund zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung oder rund 120’000 Personen als spielsüchtig. Wenn ich zum Beispiel jede Woche Lotto spiele: Bin ich dann bereits süchtig? Oder anders gefragt: Wie äussert sich eine Glücksspielsucht überhaupt? Gibt es typische Merkmale?
Christina Messerli: Spielen ist ein wunderbares Freizeitvergnügen. Das Würfelspiel ist das älteste Glücksspiel der Welt. Wer gelegentlich oder regelmässig zum Beispiel Lotto spielt und Mass halten kann, gilt nicht als süchtig. Von einer Glücksspielsucht reden wir erst, wenn das Spielen den Alltag bestimmt: Wenn also jemand ständig überlegt, wann und wo er die nächste Sportwette platzieren, in ein Pokerspiel einsteigen oder den nächsten Geldspielautomaten füttern kann.
Beatrice Kriwanek: Glücksspielsucht ist eine sogenannte Verhaltenssucht. Das heisst, das Verhalten der betroffenen Person wird auffällig bzw. verändert sich stark: Plötzlich steht nur noch das Spielen im Fokus, alles andere im Leben verliert an Bedeutung.
Christina Messerli: Wird um hohe Einsätze gespielt, kann schnell ein finanzieller Leidensdruck entstehen: Der Gewinn lässt auf sich warten, die Verluste beginnen sich anzuhäufen. Viele machen Schulden und haben keine Ahnung, wie sie sie wieder begleichen können. Ein Teufelskreis beginnt. Neben Spielschulden, körperlichen und psychischen Beschwerden leidet oft das Familien- und Berufsleben unter der Sucht.
Anfang 2019 ist das revidierte Geldspielgesetz in Kraft getreten, welches neu Online-Geldspiele in der Schweiz erlaubt, gleichzeitig aber Angebote aus dem Ausland verbietet. Diesen Sommer sind erste Schweizer Online-Casinos gestartet, weitere Angebote auch aus dem Kanton Bern sollen folgen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Welche Risiken sehen Sie?
Beatrice Kriwanek: Die Casinos erschliessen sich auf diese Weise neue Märkte und Zielgruppen. Online-Geldspiele sind nicht wie die klassischen Casinos an Öffnungszeiten gebunden, sondern Tag und Nacht via Computer oder Smartphone überall verfügbar. Es fehlt die soziale Kontrolle und in der virtuellen Welt geht der Bezug zum realen Geld verloren.
Christina Messerli: Die Online-Angebote im Glücksspielbereich wirken in Bezug auf eine Suchtentwicklung wie eine Art Brandbeschleuniger: Neuste Zahlen aus der Westschweiz zeigen, dass bei Online-Geldspielen jede zehnte Person ein problematisches Spielverhalten aufweist. Gerade Jüngere und Einkommensschwache gehen bei Sportwetten und Casinospielen hohe Risiken ein: Die zehn Prozent problematisch Spielende sind für die Hälfte aller Online-Spieleinsätze verantwortlich! Das Suchtpotenzial bei Online-Spielen zum Beispiel am Handy ist enorm hoch: Gelegenheit schafft Spielende! Wir müssen wachsam sein, und schauen, wie sich die Zahlen entwickeln.
In den vergangenen Monaten haben die Casinos stark die Werbetrommel für ihre neuen Online-Angebote gerührt Tun sie aber genug, um Spielerinnen und Spieler zu schützen? Wie erleben Sie die Zusammenarbeit? Welche Erwartungen haben Sie an die Anbietenden?
Christina Messerli: Die Casinos sind profitorientiert und wollen möglichst viele Menschen, die spielen. Sie haben aber auch eine gesetzliche Verpflichtung zum Spielerschutz und entsprechende Sozialkonzepte. So liegt es in ihrer Verantwortung, Personen mit einem problematischen Spielverhalten anzusprechen und im Notfall zu ihrem eigenen Schutz zu sperren. Zum Sozialkonzept der Casinos im Kanton Bern gehört auch die Kooperation mit uns als Fachstelle in Form von regelmässigem Austausch, Personalschulungen sowie der Zusammenarbeit bei Aufhebungsgesuchen für Spielsperren. Jede Person, die sich entsperren lassen will, braucht eine fachliche Einschätzung und Empfehlung von unserer Seite.
All dies muss künftig auch für die Online-Angebote sichergestellt werden. Das heisst, dass bestehenden Sozialkonzepte und die Zusammenarbeit angepasst werden müssen. Online-Spiele bieten grundsätzlich perfekte technische Möglichkeiten, Geldeinsätze und Spielfrequenzen jederzeit zu prüfen.
Beatrice Kriwanek: Eine grosse Herausforderung bei Online-Geldspielen ist die Umsetzung des Jugendschutzes. Die Anbieter müssen sicherstellen, dass sich die Schutzmechanismen wie Identitäts- und Altersprüfung nicht einfach umgehen oder aushebeln lassen. Auch die Netzsperren der ausländischen Anbieter sind leider leicht zu umgehen.
Was tut die Berner Gesundheit zusammen mit Partnerinnen und Partner wie «Spielen ohne Sucht» auf nationaler Ebene zum Thema Glücksspiel?
Beatrice Kriwanek: Man kann die Verantwortung nicht den Casinos alleine überlassen. Deshalb braucht es von den Fachleuten und -stellen Aufklärung und Information für die Bevölkerung. Die aktuelle Kampagne von «Spielen ohne Sucht» im Auftrag von 16 Deutschschweizer Kantonen, unter anderem auch dem Kanton Bern, ist richtig und wichtig. Sie legt den Fokus auf die Gefahren und Risiken der neuen Online-Angebote und informiert spielerisch und allgemein verständlich. Die kurzen Videos machen bewusst, wie Glückspielsucht den Alltag verändert. Auch dass die Medien regelmässig über das Thema berichten, hilft und schafft ein gesellschaftliches Bewusstsein. Hier sind wissenschaftliche Studien zum Spiel- und Suchtverhalten nötig und wertvoll. Sie liefern Fakten und setzen der einseitigen Kommunikation der Casinos etwas entgegen.
Christina Messerli: Was die Herausforderungen der neuen Online-Angebote und die Zusammenarbeit mit den Casinos betrifft, kooperieren wir via nationale Fachverbände mit anderen kantonalen Fachstellen. Wir tauschen uns aus über bewährte Methoden und Verfahren zum Beispiel bei der Aufhebung von Spielsperren.
Beatrice Kriwanek: Wichtig bei den interkantonalen Kampagnen ist immer auch die Vernetzung und die Verankerung vor Ort. Die Leute sollen wissen, wo sie sich bei Bedarf in ihrer Nähe Unterstützung holen können.
Was tut die Berner Gesundheit auf lokaler Ebene, um die Menschen über die Risiken und Folgen des Glücksspiels aufzuklären?
Beatrice Kriwanek: Die «klassische» Präventionsarbeit umfasst Aufklärung und Sensibilisierung. Bewährt hat sich aufsuchende, niederschwellige Arbeit mit von uns geschulten Schlüsselpersonen. Die gut vernetzten Personen sind in verschiedenen Communities unterwegs und versuchen, an spezifische Risikogruppen heranzukommen, wie etwa junge Männer mit Migrationshintergrund. Im Projekt «Migram» sind zum Beispiel sieben Schlüsselpersonen im Setting von soziökonomisch benachteiligten Familien unterwegs. Im Projekt «Peers» haben wir fünf junge Erwachsene zum Thema Glücksspiel geschult. Sie sprechen Passantinnen und Passanten im öffentlichen Raum auf ihre Erfahrungen mit Glücksspielen an. Die Auswertungen sind positiv: Die Atmosphäre ist ungezwungen und spielerisch. So entstehen gute Gespräche und die Informationen zu den Risiken und möglichen Folgen von Glücksspielen kommen bei den Leuten an. Deshalb würden wir diese Angebote gerne auch in Zukunft umsetzen.
Wie merkt das Umfeld, die Familie, Freundinnen und Freunde oder Arbeitskolleginnen und -kollegen, ob jemand ein Problem mit Glücksspielen hat?
Christina Messerli: Eine Glücksspielsucht läuft meist im Versteckten ab. Die betroffene Person selber bemerkt als erstes, dass ihr Verhalten problematisch ist. Aus Scham beginnen Spielsüchtige oft ein Art Doppelleben zu führen, damit die Familie oder das nahe Umfeld möglichst nichts mitbekommen.
Beatrice Kriwanek: Meist bekommen sie aber trotzdem etwas mit. Aus Rückmeldungen aus unserem Berufsalltag wissen wir, dass sich Betroffene zurückziehen, die Familie und Freundschaften vernachlässigen. Im persönlichen Umgang wirken sie oft «abwesend», sind unruhig, nervös und gereizt, weil sie in Gedanken bereits beim nächsten Spieleinsatz sind. Im Beruf halten sie Termine nicht ein, kommen oft zu spät oder wirken unkonzentriert.
Welche Folgen hat Glücksspielsucht für die Betroffenen und ihr Umfeld?
Beatrice Kriwanek: Der Stress, die Unruhe und die Gereiztheit wirken sich negativ auf den Familienalltag aus; Erziehungspflichten werden vernachlässigt, die Angehörigen fühlen sich allein gelassen. Aber auch die finanziellen Probleme sind für die Familien sehr belastend. Wegen Schulden oder ständiger Geldknappheit wird es schwierig, den Alltag zu meistern. Das kann zu Streit und Spannungen innerhalb der Familie führen.
Christina Messerli: Betroffene oder Angehörige können auch psychisch erkranken: Sie leiden an Schlafstörungen, Depressionen, Angstzuständen. Das Gefühl der Ausweglosigkeit kann auch zu Suizidgedanken führen.
An wen können sich Betroffene, Angehörige oder das Umfeld wenden?
Christina Messerli: An eine Fachstellen wie die Berner Gesundheit – telefonisch oder jederzeit online –, an die nationale Internetplattform «Spielen ohne Sucht» oder die Schuldenberatungsstellen. Auch die Hausärztin ist eine gute erste Anlaufstelle, die weiter weiss. In Frage kommt auch eine Selbsthilfegruppe.
Beatrice Kriwanek: Die Schlüsselpersonen aus «Migram» und «Peers», die ich vorhin erwähnt habe, zeigen den Familien und ihrem Umfeld auf, was sie bei einer Spielsucht unternehmen und wo sie Hilfe holen können. Viele Angehörige wissen zum Beispiel nicht, dass auch sie für ein Familienmitglied eine Spielsperre beim Casino beantragen können oder dass es eine Schuldenberatung gibt. Wir versuchen die Ressourcen und die Lebenskompetenzen der kontaktierten Menschen zu stärken, damit sie einen Ausweg aus dem Teufelskreis finden.
Christina Messerli: So gestärkt ist dann auch der Schritt in die Beratung einfacher. Es braucht Kraft, sich mit solch schambehafteten Problemen Hilfe zu suchen. Meist ist bereits ein hoher Leidensdruck vorhanden.
Wie läuft eine Suchtberatung zum Thema Glücksspiel bei der Berner Gesundheit ab?
Christina Messerli: Wir geben den Betroffenen erst einmal Raum und einen geschützten Rahmen, um über ihre Probleme und Sorgen zu reden. Wir arbeiten dabei mit einem ganzheitlichen und systemischen Ansatz, das heisst wir schauen genau hin, wo die betroffene Person im Leben steht und was sie braucht. Geht es zum Beispiel um rasche Existenzsicherung wie Schuldenberatung oder ist eine sofortige Spielsperre nötig? Hier gehen wir strukturiert vor und arbeiten in enger Kooperation mit Fachstellen wie der Berner Schuldenberatung und bei Bedarf auch mit diversen stationären Angeboten wie Kliniken oder Spitälern zusammen.
In der Therapie leiten wir zur Selbstreflexion an und loten aus, wo die Person bei sich selber den Hebel ansetzen kann. Sie lernt, ihr Verhalten zu beobachten und schrittweise längerfristig zu verändern: Wann und wo setzt der Spieltrieb ein? Warum und wie gehe ich Risiken ein? Welche Alternativen habe ich? Welche Funktion hat das Spielen in meinem Leben? Geduld zur Veränderung zu haben, ist für Spielsüchtige schwierig, weil sie an den kurzfristigen Kick gewöhnt sind. Wichtig kann deshalb auch der Einbezug der Angehörigen und allenfalls des näheren Umfelds sein: diese Ressourcen gilt es bei Bedarf zu nutzen und miteinzubeziehen.
Kommen wir zum Schluss zu einem besonders aktuellen Thema im Bereich Glücksspiel: Bei Kindern und Jugendlichen sind Video- und Computerspiele sehr beliebt. Mittlerweile setzen viele dieser Spiele nicht mehr einfach auf die Geschicklichkeit der Spielenden, sondern bauen auch Mechanismen ein, die stark ans Glückspiel erinnern: Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Christina Messerli: Auch diesen Anbietern geht es in erster Linie um Profit, deshalb ist Ihnen jedes Mittel recht, um Leute anzubinden. In Bezug auf den Jugendschutz wirft dies Fragen auf. Die Gesetzgebung ist langsam. Wir schätzen es deshalb sehr, dass sich die Fachverbände auf nationaler Ebene engagieren und Druck auf den Gesetzgeber machen.
Wir wissen aus internationalen Studien, dass ähnlich wie bei Online-Glücksspielen für Erwachsene, auch im Jugendbereich Games über die Finanzen einer kleinen Gruppe riskanter oder abhängiger Spielenden finanziert wird. Aus meiner Sicht ist die Gefahr gross, dass hier früh problematisches Verhalten gefördert wird.
Beatrice Kriwanek: Deshalb ist es zentral, dass hier die Prävention frühzeitig einsetzt: Kinder und Jugendliche erreichen wir in Zusammenarbeit mit Schulen, Migrantencommunities, aber auch mit Vereinen oder sozialen Institutionen. Wir schulen Multiplikatoren und Multiplikatorinnen, die im Alltag mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben und gehen Kooperationen ein mit Angeboten wie zum Beispiel «ever fresh» von Idée Sports: Hier engagieren sich Jugendliche, um Gleichaltrige über Sucht und deren negative Auswirkungen zu informieren. Wir konnten das Team «ever fresh» in Bern zum Thema Glücksspiel schulen. Nach dem gelungenen Pilotversuch sind wir daran, eine zukünftige Zusammenarbeit zu prüfen.
Es braucht hier von allen Betroffenen und Beteiligten eine gute Medienkompetenz und eigenverantwortliches Handeln. Eltern und Erziehungsverantwortliche müssen sich bewusst sein, dass sie im Umgang mit digitalen Medien eine starke Vorbildrolle haben.
Was raten Sie Erziehungsberechtigten, Lehrpersonen oder Ausbildnerinnen und Ausbildner, die sich Sorgen um das Spielverhalten eines Kindes oder eines Jugendlichen machen?
Beatrice Kriwanek: Hinschauen, fragen, zuhören und problematisches Verhalten ansprechen. Hier ist eine vertrauensvolle und wertschätzende Atmosphäre wichtig. Aber auch klare Ansagen bzw. das Setzen von Grenzen sind wichtig.
Christina Messerli: Eltern sollten sich ihrer Erziehungsrolle bewusst bleiben und sich nicht davon einschüchtern lassen, dass ihre Kinder bei den Themen digitale Medien oft einen Wissensvorsprung haben. Wenn Kinder und Jugendliche merken, dass die Erwachsenen hinschauen, präsent sind und reagieren, kann das schon viel zur Entspannung der Situation beitragen. Gerne bieten wir Eltern, Familien und weiteren Bezugspersonen jederzeit unsere Unterstützung an.
Besten Dank für das Gespräch!
Zu den Personen
Beatrice Kriwanek, Sozialpsychologin lic.phil.hist., ist Projektleiterin Glücksspiel und Fachmitarbeiterin Gesundheitsförderung und Prävention bei der Berner Gesundheit.
Telefon: 031 370 70 84
Christina Messerli, Sozialarbeiterin FH und systemisch-lösungsorientierte Therapeutin, ist Leiterin des Berner Regionalzentrums Beratung und Therapie bei der Berner Gesundheit.
Telefon: 031 370 70 91
Weiterführende Links
Kampagne SOS-Spielsucht
SOS-Spielsucht hat im Herbst 2019 mit Partnerinnen und Partnern in der deutschen Schweiz eine Sensibilisierungskampagne mit dem Fokus auf Online-Geldspiele lanciert. In kurzweiligen und humorvollen Videos werden die Risiken des Online-Spielens thematisiert.